„Sky Walk“ – die Mutprobe auf der hundertsten Etage
Kaum zurück auf dem Boden, stehen wir vor einem weiteren Giganten, dem World Financial Center. Mit ihm hat Shanghai seine Rolle als Finanzmagnet Asiens im wahrsten Sinne des Wortes zementiert. Annähernd ein halber Kilometer vertikale Baukunst in Stahl, Beton und Glas erhebt sich in den Himmel. »Der Bau beherbergt ein erstklassiges Finanzzentrum, ein Luxushotel, mehrere Einkaufszentren und, auf 474 Metern, eine 750 Quadratmeter große Sightseeing-Halle.« Diese sensationelle Kulisse wird auch gerne für Kunstausstellungen genutzt. In der hundertsten Etage werden wir von Eric in eine Mutprobe gequatscht: Wir sollen den »Sky Walk« erleben, einen fünfzig Meter langen Korridor mit einem Boden aus Glas. Optisch trennt uns nichts vom freien Fall. Das Hirn schreit »Nein!«, die Nebennieren produzieren Adrenalin im Überfluss, die Knie zittern, unsere Körper sind zu beschäftigt, um zu sprechen. Einige Besucher schreien panisch beim Blick nach unten, andere geraten in Schockstarre. Tapfer arbeiten wir uns Schritt für Schritt auf vermeintlich sichereren Untergrund zurück, wo uns Eric und Vanessa ein wohlwollendes, breites Grinsen schenken. Etwas später löst sich im Restaurant bei einer Tasse Kaffee die Anspannung und macht einem seltsamen Hochgefühl Platz. Clark Kent aus, Superman an!
Mit dem schnellsten Lift zur höchsten Indoor-Beobachtungsplattform der Welt
Schwindel zum Dritten: Mit einer Geschwindigkeit von 64 Stundenkilometern rasen wir im schnellsten Aufzug der Welt die 632 Meter des Shanghai Tower hoch. Um den Windeffekt in großer Höhe auszugleichen, windet sich das höchste Gebäude Chinas wie eine Schlange in die Luft. Seine Konstruktion vereint Statik und Architektur in Reinkultur. Das beruhigt, denn Taifune sind hier keine Seltenheit. Eine doppelte Glasfassade sorgt für angenehmes Klima im Inneren. »Das Prinzip ähnelt jenem einer gigantischen Thermoskanne«, erklärt uns Eric auf dem Weg zum Top of Shanghai Observatory, der höchsten Indoor-Beobachtungsplattform der Welt.
Um unsere Pulsfrequenz wieder auf den Normalbereich zu senken, schlagen unsere Gastgeber den Weg zum Yu Yuan Garden ein. Auf einmal eilt Vanessa behände auf eine Fahrradstation zu. Dort entriegelt sie mit ihrem Smartphone Zweiräder, auf die wir uns schwingen und lautlos durch die Anlage gleiten. Welch ein Kontrast! Hier scheint die Zeit seit vierhundert Jahren stillzustehen. Pavillons, Steingärten, Teiche und Klöster ziehen an uns vorbei, einzig untermalt vom sanften Fahrtwind, der das Zwitschern von Vögeln in unsere Ohren trägt. »Nach dem Untergang der Ming-Dynastie verwahrloste die Anlage. Ab 1760 wurde während 20 Jahren rekonstruiert, während des Opiumkrieges im 19. Jahrhundert wurde sie erneut stark beschädigt«, weiß Eric. »Was man heute sieht, ist das Ergebnis eines Wiederherstellungsprojekts, das 1956 begonnen und 1961 abgeschlossen wurde.« »Schaut mal!«, sagt Vanessa und zeigt auf einen großen, löchrigen Stein, dessen Form an ein abgebrochenes Stück Emmentaler Käse erinnert. »Das ist der berühmte Jadefelsen. Er ist über drei Meter hoch und hat 72 Löcher. Wenn ein Räucherstäbchen direkt unter dem Felsen brennt, schwebt sein Rauch wie magisch durch alle Öffnungen.« Tatsächlich, wie ein seidener Schleier räkelt sich ein Hauch feinen Nebels um den Stein.